Hochgebucht

Das Letzte, was mich vor Reiseantritt noch in der Klinik erwartete, war wieder mal das Letzte: Die Patientin Frau K. auf Station 5, hatte sich wegen der zu dürftigen Kost beschwert. Das Besondere an dieser Beschwerde von Frau K.: Es war die siebte Beschwerde, die Frau K. in den drei Tagen ihres Da- seins auf der Station. Mal war es das Essen und die Beschwerde ging an die Stationsschwester. Mal war es der schlechte Service der Nachtwache - und die Beschwerde ging gleich am Mor- gen an die Stationsschwester. Mal war es das verspätete Erscheinen des Krankenhausseelsorgers und die Beschwerde ging an die Stationsschwester. Heute war es wieder das Essen. Der Clou am Besonderen der Beschwerden von Frau K. lag auf der Privatstation, obwohl sie nicht Privatpatientin war. Man hatte Frau K. wegen Überlastung auf der übrigen Station von den Dreibettzimmern in ein Einzelzimmer verlegt: mit Fernsehen, Illustrierten-Dienst und Durchwahl-Telefon auf dem Nachttisch. Eben Privatstation...Ich sollte mal mit Frau K. sprechen. Sie sei offenbar chronische Nörglerin und noch offenbarer sei die Stationsschwester am Ende ihrer Kraft. Das war das Letzte vor meinem Abflug auf den Kongress. Jetzt saß ich im Flug Nr. 504 nach Sao Paulo und dachte immer noch an Frau K., wieder an Frau K. Ich saß zum ersten Mal in der Business-Class, zweieinhalb Mal so teuer wie meine bewilligter Economy Class. Ich war aber wegen Überbuchung in der Economy-Class hochgebucht worden in die nächsthöhere Klasse. Hochgebucht wie Frau K. Es war kurzfristig ruhig, dann kam nochmals Unruhe auf. Der Steward kam mit weiteren zwei Mitreisenden aus der Economy Class in die Business Class. Ein Paar. Hochgebucht wie ich wegen der Überfüllung. Während der Mann das Gepäck verstaute, tröstete der Steward über die Umzugsmühen hinweg und lud ein, dafür den Service der Business-Class zu genießen. „Wir haben aber vorhin am Fenster gesessen", sagte die Frau zum Steward, der sich daraufhin umsah und tatsächlich noch einen freien Fensterplatz entdeckte. Einen Einzelplatz. Der Mann der Frau schüttelte den Kopf und bestand auf zwei Plätzen nebeneinander. Hilfesuchend sah sich der Steward um und hatte Glück: Der Reisende neben dem freien Fensterplatz erbot sich, zu wechseln und zog auf die andere Seite um. Die Stewardess bot ihnen dieselbe Palette von Getränken an, wie ich sie als Hochgebuchter auch genießen konnte. „Haben Sie kein Fürstenberg-Pils", fragte der Mann und schüttelte den Kopf, als er Nein hörte. Während der Ausgabe der Speisekarten mit ihrer Auswahl von 3 Speisen (in der Economy Class gibt es ein Standard-Essen) meckerte er über diese Unmöglichkeit der Überbuchung, überhaupt das Fliegen der neue ICE sei da berechenbarer und nicht so ungerecht. Mit den verschiedenen Mahlzeiten und Drinks und so. Unsozial sei das - dieser Unterschied. Während des Essens zählten wir, die wir in der Nähe des anspruchsvollen Paares saßen, mindestens vier Beschwerden: Dem Mann fehlte seine Lieblingszeitschrift unter den angebotenen Zeitschriften und später beim Video (in der Economy Class gibt es den einen Film, hier in der Business 3 zur Auswahl) ausgerechnet der Kinofilm von links um die Ecke zuhause. Und das Leselicht des Nachbarn war zu hell später beim Schlummer. Was sagte doch die Stationsschwester auf der 5., zuhause anlässlich von Frau K. Wieder mal jemand, der über das Essen schimpft, weil es zuhause nur schlechteres gibt.

31. Oktober 1995